Die Sopranistin Barbara Hannigan sagte im Interview, ihre
Lulu habe „etwas Tierisches, wie ein kleiner Vogel oder ein wildes Tier. Die
Darsteller_innen seinen eine nicht wirklich gute „Varieté-Truppe voller starker
Persönlichkeiten“. Das könnte stimmen, aber was das für die Oper bedeuten
könnte, bleibt für viele unklar. Eine männermordende übersexualisierte Femme fatale ist sie jedenfalls nicht, stattdessen wird viel Sport getrieben. Barbara Hannigan turnt, singt und tanzt
fantastisch, sie ist Akrobatin wie Sängerin in dieser Rolle. Sagt man nicht
immer Singen ist Hochleistungssport? Darf man erwähnen, dass sie 1971 geboren
ist und wirklich unglaublich fit und jung erscheint? Eine ganz große kleine
Frau mit Energie, burschikos, aber trotzdem charmant.
Auch Anne Sofie von Otter zu hören, war ein Traum! Sie hat einen
wunderschön warmen, runden Ton, den sie für Bergs Musik auch bricht und anraut.
Sie ist m.E. die perfekte Sängerin für diese Art von Berg. Unglaublich klar,
sehr nach meinen liebsten Schönbergaufnahmen klingend setzt sie ihre Töne in
den Raum - selbstverständlich und kraftvoll schön. Auch der Rest des Ensembles
kann sich sehen lassen. Matthias Klink als Alwa singt sicher und leicht und
spielt besonders eindrucksvoll in den Sprechszenen, Ivan Ludlow setzt neben seiner
Stimme als „der Athlet“ auch seinen muskulösen Körper geschickt ein und turnt
gemeinsam mit Hannigan über die Bühne.
Auf dieser ist eine zweite Bühne zu sehen. Wie ein Aufnahmestudio und
gleichzeitig eine improvisierte Manege sieht die
eigentliche Bühne aus, auf der eine ansehnliche Hinterbühne mit goldenen
Käfigstangen und viel zu vielen Bühnenvorhängen steht. Leider geht Marthaler
mit diesen Bühnen nicht konsequent um. Die zweite Bühne auf der Bühne wird erst als Ort des Spiels von vier
Darstellerinnen (zu dem Stück hinzugefügte Rollen) mit farbigen Kleidern
genutzt, dann aber gebrochen, indem auch die schwarz-weiß Sänger darauf
performen. Zwei Männer sterben auf der Bühnenbühne, einer nicht. Lulu singt auf
der Bühne zu ihrem Gesprächspartner auf der Hinterbühne, so setzt es sich fort.
Die Anspielung, was Real und was Spiel sei, wird nicht deutlich. Marthaler
mischt zu oft und dadurch gibt es simpel gesagt keinen Unterschied zwischen den
Bühnen. Damit wären beide – Realität und Schauspiel – das selbe.
Das Zusammenspiel der Figuren ist besonders. Die Personen agieren nicht
miteinander. Der Satz „Du riechst nach Tabak“ wirkt nicht, wenn gar Kuss
zustande kam, weil beide an anderen Enden der Bühne stehen. Die Sänger_innen
stellen eher abstrakt Emotionen da. Um z.B. den Gymnasiasten loszuwerden
verziehen Alwa und der Athlet keine Miene, aber drängen ihn mit statischer
Körpergewalt von sich weg. Beide tigern in einer Szene auch unentwegt und
unnatürlich schnell und gleichmäßig im Raum herum. Lulu hüpft teils minutenlang
auf der Stelle, worauf ihre beiden Freier im dritten Akt sehr unterschiedlich
reagieren. Wirklich miteinander agieren tut keiner, viele Einzelpersonen, viel
Leere. Niemand sieht Lulu wirklich als Person, Lulu sieht auch niemanden. Das
wirkt insgesamt sehr trocken und für viele, die mit der Sprache Marthalers
nichts anfangen können eher klamaukig. An ernsteren Stellen wurde doch oft
gelacht.
Ein anderer Ansatz der Inszenierung spielt mit den
vier Darstellerinnen. Sie werden von einem männlichen Darsteller, welcher der
Regisseur bzw. Dompteur zu sein scheint, gewaltvoll in Bewegung gebracht, er
führt sie Regie und schmeißt ihnen später blaue Bademäntel hin, womit sie
aussehen wie Lulu. Das ist einer von zwei schönen Lichtmomenten der Oper: Lulu könnte jede Frau sein und
die Regisseure der Welt haben die Figur von Wedekind/Berg bereits in jede
erdenkliche Ecke verbogen. Aber auch mit dieser Anspielung bricht er wieder,
schließlich lässt er die Darstellerinnen, noch in Lulu-Kleidern, plötzlich als Erzählerinnen
auftreten, die das Geschehen erklären. Auch die Idee, dass Lulu von Männern
bzw. vom Regisseur geformt wird, ist nicht stringent durchgezogen, da sie
selbst gestisch die Marionettenspielern aller gibt.
Sie dreht sich auch an ihrer eigenen Strippe. Aber vielleicht passt gerade dieses nichtpassen zum surrealen der Oper selbst.
ACHTUNG SPOILER zum dritten Akt:
Eine wunderbare Idee hingegen für das Ende ist das
Spielen des Violinkonzerts von Alban Bergs, welches er Manon („Dem Andenken
eines Engels“), der Tochter von Alma Mahler und Walter Gropius, die kurz zuvor
gestorben war, widmete. Für diese Auftragskomposition unterbrach er immerhin
seine Arbeit an der Lulu und vollendete die Oper wegen seiner darauffolgenden
tödlichen Erkrankung nicht mehr. Und ist Lulu nicht auch eine Art Engel? Dies
fragt sich der Regisseur zumindest. Auch hier spielt Marthaler mit der
Choreographie und lässt die Puppen (Darstellerinnen und später Lulu) gegen das
Violinkonzert tanzen. Sie stehen bspw. ein paar Minuten mit einem falschen
Lächeln auf der Bühne und rühren sich ansonsten trotz des wirklich rührend
emotionalen Auftritts der Geigerin nicht. Abgehackt und etwas unnatürlich
zappeln die vier (Lulu kommt später dazu) sehr langsam auf der Bühne herum. Das
Violinkonzert überschattet alles ein wenig. Man vergisst, dass man in einer
Oper ist, man vergisst die wirklich etwas schwere Kost vorher. Das zeigt sich
dann beim Applaus auch. Beim ersten Mal noch, bekommt die Violinistin Veronika
Eberle, die begleitet von Bendix Dethleffsen auch schon das vorherige Partiell
gespielt hatte (Marthaler und Nagato haben sich gegen eine Fassung des dritten
Aktes, die nicht von Berg stammt, entschieden), mehr Applaus als Barbara
Hannigan. Dies wir natürlich beim zweiten Auftreten richtig gestellt, als man
sich an die Oper erinnerte. Auch Marthaler wird vom Publikum mit Applaus belohnt. Was dabei nicht gehört
werden kann, sind die stillen Buhrufe derer, die bereits nach dem ersten und
einige dann noch nach dem zweiten Akt den Saal verlassen haben und selbst im
begehrten Parkett genügend Platz für Aufrücker machten.
Mir stellt sich die Frage, ob es in einem so großen
Haus, zu einer für viele recht schwer anzuhörenden Opern auch noch eine so
schwierige Inszenierung geben muss? Wie viele blieben auf der Strecke, trotz und vielleicht auch wegen des verschwurbelten Textes über Oper und Regisseur im Magazin der Staatsoper. Selbst
ein erfahrener Opernsänger sagte zu mir in der zweiten Pause: „Ich fürchte er
will nichts“ auf meine Frage, zu Marthalers Intention. Was nützt eine vielleicht sogar recht intelligente
Inszenierung also, wenn gerade die, welche keine großen Kenner der Zwölfton- geschweige denn modernerer Musik sind, dadurch noch mehr abgeschreckt sind. Barbara Hannigan meinte im Interview auch, dass sie diese Art von Musik gern verbreiten möchte. Ihre Stimme schafft dies, die Insenierung leider nicht, die ist für Insider. Schwamm drüber jetzt ist Premiere... alle waren zufrieden mit sich
und der Aufführung. Die Premierenfeier war munter und man wälzte sich im Bade
des Bildungsbürgertums. Musikalisch war diese Aufführung wirklich ein Genuss
und allein deshalb empfehlenswert. Wer Alban Berg mag, wird Hannigan unter Kent
Nagano mit dem fantastischen Philharmonischen Staatsorchester lieben.
Kurzer Rückblick aufs Wochenende:
Le Nozze di Figaro – Ironie, Witz und tolle
Sänger_innen! Ein wirklich runder Abend, auch wenn die Presse sich da nicht
ganz einig ist (so ist es ja oft mit der Uneinigkeit vom Publikum und den
Rezensenten des Feuilletons). Es ist m.E. sowohl etwas für Menschen, die Kostümtheater
lieben, als auch für solche, die intellektuell ein wenig Futter haben wollen.
Hier vielleicht etwas mehr für die erste Kategorie.
Les Troyens – intensive Bilder, viel Blut,
mittelmäßig Besetzt vor allem in den Männerstimmen, tolle Dido, noch besserer
Chor, wunderbare Musik Berlioz‘. Die Oper wurde von 5 ½ Stunden nach Berlioz‘
Original natürlich gekürzt. Es treten wuchtige Chöre mit großem Orchester
unterlegt mit vielen Sänger_innen auf, eine richtige Grand Opera. Der erste
Teil ist sehr kurzatmig und zu Tränen rührend. Cassandra schafft es, auch
zusammen mit dem Chor, einen mit ihrer etwas schwerfälligen Stimme emotional zu
erreichen. Dido allerdings, die wunderbar singt, kann mit ihrem Partner keine
Liebe aufkommen lassen. Die Szenen sind völlig unglaubwürdig. Deshalb ist der
Anfang des zweiten Teils etwas langwierig und wenig bewegend. Die Wut und den
Hass dagegen spielt sie herrlich. Leider haben die Flöten und Klarinetten
schlecht intoniert. Schade, da sie in diesem Stück oft solistisch über das
Orchester rüberspielen.
P.S.: In den Angaben habe ich eine rassistische Bezeichnung gestichen, will sie hiermit aber nicht leugnen.
Gräfin Geschwitz – Anne Sofie von Otter
Eine Theatergarderobiere/Gymnasiast – Marta Świderska
Der Medizinalrat Dr Goll/Polizist/Professor – Martin Pawlowsky
Der Maler – Peter Lodahl
Dr Schön/Jack – Jochen Schmeckenbecher
Alwa – Matthias Klink
Ein Tierbändiger/Ein Athlet – Ivan Ludlow
Schigolch – Sergei Leiferkus
Der Prinz/Kammerdiener/Marquis – Dietmar Kerschbaum
Theaterdirektor – Denis Velev
Philharmonisches
Staatsorchester Hamburg / Kent Nagano.
Regie – Christoph Marthaler